Die etwas andere Sicht auf das verunglückte Zukunftsprojekt
Am Anfang des in krasse Schieflage geratenen Centre hospitalier de Rennaz, kurz «HRC-Rennaz», stand, wie so häufig, eine gute Idee: Die kleinen, renovationsbedürftigen Standorte des Hôpital Riviera-Chablais (HRC) – ein Zusammenschluss des Waadtländer Hôpital de la Riviera mit seinem Walliser Pendant du Chablais – als Akutspitäler aufzuheben und an einem neuen Standort zusammenzufassen.
Ein bekanntes Rezept: Aus mehren Kleinen mache ein Grosses, der Neubau als Erfolgsgarant, Summenspiel mit Rabattgewinn. In diesem Fall: Rennaz, Autobahnanschluss, salomonisch in der Mitte, zwei spendable Kantone, renommierte Planer und Bauer, ausgewiesene Experten, interkantonales Vorzeigeprojekt.
Und jetzt, ein halbes Jahr nach der medial orchestrierten Inbetriebnahme: Katzenjammer! Massives Defizit, fragwürdige Geldbeschaffung, politisches Donnergrollen, direktorales Köpferollen.
Was ist schiefgelaufen? War das Vorhaben überambitioniert? Überdimensioniert? Lag es an der naiven Blindheit des Aufsichtsorgans, das das Prestigeprojekt um jeden Preis durchboxen wollte oder am kruden Gebaren des Direktors, der Personal und Ärzteschaft vergraulte? Kenner der Szene überbieten sich in Erklärungen und Journalisten tippen sich die Finger wund.
Ich will mir nicht anmassen, beurteilen zu können, was genau zum Fiasko geführt hat. Ob der Neubau, der auf modernsten Spitalbetriebskonzepten beruhte, nicht hält, was er versprach, ob die Form nicht genügend auf die Funktion ausgerichtet war, nicht die gewünschte Optimierung und Ökonomisierung mit sich brachte, die Wege nicht ausreichend kurz und gradlinig waren, der Betrieb über die Parkplatzfalle stolperte, der Direktor im Umgang einen zu harschen Ton anschlug… whatever.
Was mich stutzig macht, sind die weggebliebenen Patienten – das Defizit im zweistelligen Millionenbereich beruht im Wesentlichen auf fehlenden Einnahmen. Hatte man doch stets frohlockt, dass sich das zu versorgende Populationsbassin freudig ins HRC-Rennaz entleeren würde und keine Sekunde daran gedacht, dass einem die eigene Bevölkerung die kalte Schulter zeigt und in andere Einrichtungen abwandert. Ins CHUV. Nach Sitten. Oder in eine der vielen Privatkliniken, die sich in Perlenkettenmanier am Genferseeufer entlangfädeln, die Region trägt nicht zu Unrecht den Titel «hyperconcurrentielle».
Warum kommen die Patienten nicht? Oder umgekehrt: wann kommen sie denn? In ein Regionalspital?! Denn spätestens hier wird das «Rennaz-Problem» zu einem generischen.
Die Spezies «Regionalspital» ist eine besondere. Eine heikle. Diffizile. Während Unispitäler von ihrem Lehr- und Forschungsrenommee leben und Privatspitäler von ihren Glanzbauten und Arztkoryphäen, lebt das Regionalspital von seiner lokalen Verankerung. Vom «Wir-Gefühl», vom Verwurzelt sein, vom Sich-Kennen und sich auskennen. Dies ist sein Alleinstellungsmerkmal, der Grund, warum man in «sein» Spital geht, auch wenn es die gleiche Behandlung anderswo genauso gut gibt. Das Zugehörigkeitsgefühl. Das Familiäre. Das unsichtbare, aber wirkmächtige Netz der Beziehungen, sachlich, menschlich, wirtschaftlich. Und das zügelt man nicht so einfach.
Ein Regionalspital zu betreiben, ist, neben dem nötigen medizinischen und betrieblichen Wissen und Können, in erster Linie Kulturarbeit. Man muss die Leute kennen, die Regionalwirtschaft, die lokalen Partner. Man muss die Eigenheiten der Bewohner und das Lokalkolorit kennen, dieselbe Sprache sprechen und am gleichen Strick ziehen. Man muss die Versorgungspartner davon überzeugen können, zu kooperieren und individuelle Vorteile zugunsten eines gemeinschaftlichen Gesamtnutzens aufzugeben.
Kulturarbeit ist Schwerarbeit. Sie ist jedoch die Voraussetzung, auf ein verlässliches, partnerschaftliches Netzwerk zurückgreifen zu können – das Fundament eines jeden Regionalspitals – welches letztlich das Funktionieren des Spitals mitdefiniert. Und so, wie beim Bau die Form der Funktion folgen sollte, muss im Betrieb die Funktion der Kultur folgen: «Form follows function, function follows culture».
Kann man aus fünf kleinen Regionalspitälern ein grosses machen? (Nachsatz: Wenn man nicht den Mut hat, sie zugunsten bestehender, grösserer Strukturen zu schliessen)?
Schwierige Frage. Eins ist sicher: Mit einem Spitalbau ist es nicht gemacht, möge dieser noch so clean und lean sein. Schöne Zimmer ersetzen das Vertrauen in eine gute Versorgung nicht und schöne Arbeitsplätze sind lediglich Hygienefaktoren und keine Motivatoren.
Die Patientele von Regionalspitälern ist überdurchschnittlich alt, fragil und polymorbid und der Spitalaufenthalt ist nur eine, sich gelegentlich wiederholende, Etappe in deren Krankheitsbiografie. Die «Perlenkette» in die sich das Regionalspital einfädelt, besteht aus dem vor-, nach- und nebengelagerten Versorgungssetting. Personal und Ärzteschaft müssen sich als Teil dieser Kette empfinden, müssen Teamplayer sein und IPZ leben, auch ohne zu wissen, wofür die drei Buchstaben stehen. Und die Bevölkerung muss sich sicher wähnen, dass ihre Gesundheitsprobleme innerhalb der Spitalmauern integral wahr- und ernstgenommen werden und sie nicht nur Ertragsfaktor sind.
Das alles kann man nicht planen, kalkulieren und bauen, bloss respektvoll und umsichtig aufbauen. In mühevoller Kleinarbeit und ohne Garantie auf Erfolg. Für Kulturarbeit gibt es kein Service Level Agreement. Doch ohne Kulturarbeit geht es nicht. Dann lieber schliessen.
(Titel in Anlehnung an die Berner Volksinitiative «Riggisberg ist überall» von 2014)
Liebe Ami
Danke und treffend. Gerade erst gestern haben 2 Kantone nicht verstanden wie das mit der Bevölkerung und den Wählern funktioniert. Die Fehler wiederholen sich. Die werden sich noch wundern… Allen ein schönes Wochenende!
Interessante Gedankrn, liebe Ami, du schreibst über Marketing ohne den Begriff zu erwähnen…:-)
Vielleicht ist das halt ein Spital zu viel. Und die Fangemeinde der staatlichen Planwirtschaft ignoriert die Wahlfreiheit der Zuweiser bzw. der Patienten.
Ou, lieber Felix, das ist eher knochenharte Vertriebsarbeit als entspanntes Marketing ;-). Und ja, es ist halt nicht wie bei den Schulen, wo man die Inanspruchnahme beplanen kann. Bei den Spitälern herrscht seit 2012 Wahlfreiheit, und das ist auch gut so!
Hoi Ami
Treffende Gedanken. Oft kumulieren sich Ertrags- und Kostenseite. Zum einen verursachen überhöhte Baukosten massive wirtschaftliche Belastungen über Jahre wenn nicht Jahrzehnte – insbesondere, wenn diese nicht budgetiert waren (zB Kostenüberschreitungen).
Zum anderen wird oft die Dynamik der Mobilität unterschätzt. Es ist richtig, sich an Verkehrsknotenpunkten zu orientieren – dabei wird leider oft vergessen, dass dann die Mitbewerber nicht regional sondern kantonal bzw. national zu verorten sind – einmal auf der Autobahn ist das nächste Zentrums- oder Universitätsspital nur noch ein Steinwurf entfernt.
Liebe Frau Müller. Ein erfrischender Artikel. Danke. „Hard-“ und „Software“, also Bauten und Menschen (auch „die Politik“…), müssen in einer stationären Akut-Institution – insbesondere vor dem Szenario eines hochkompetitiven Umfelds – im Gleichschritt im Auge behalten und entwickelt werden. Patienten stimmen mit den Füssen ab, wenn sie Wahlfreiheit auch hinsichtlich ihres Krankheitsbildes haben. Dabei ist Vertrauen eine starke Währung. Der Aufbau braucht Zeit, Energie, Glaubwürdigkeit und zumindest gefühlte Qualität. Das Reissbrett und die Erwartung, dass mit der Inbetriebnahme alles wie geplant rollt, reichen nicht. Beste Grüsse aus Basel, Stephan Fricker
Liebe Ami
Danke für die klaren Worte, die ich uneingeschränkt teile. Leider verstärkt das „Gratisgeld“ (Stichwort Negativzins) diese politischen Sündenfälle noch.
Oui, c’est évident, il faut impliquer toutes les parties prenantes dans un tel projet.
Et oui aussi, c’est bien de publicité et marketing qu’il faut parler.
Déjà, j’entends les voix s’élever: „comment osez-vous parler de la santé en termes vénaux?“
pourtant c’est bien de cela dont on parle, les hôpitaux sont en concurrence, des partenariats publics-privés sont mis en place (St-Imier), et la santé ne sera jamais rentable puisque être guéri est juste un retour à la normale, pas un gain supplémentaire.
Mais les principaux freins à cette évolution ( on pourrait presque parler de révolution pour certaines de nos institutions hospitalières dont la mentalité générale est restée bloquée au 19ème siècle) sont d’une autre nature.
La gouvernance, l’implication du politique dans l’opérationnel et ses retours d’ascenseur, les intouchables médecins-mandarins qui font licencier les personnes mandatées pour réformer l’institution afin de conserver leurs privilèges, l’utilisation des infrastructures publiques pour pratiquer des interventions privées qui coûtent à la collectivité, les puissants liens d’intérêts entre fournisseurs et médecins qui font dépenser inutilement des millions à la collectivité.
Mais qui osera mener cette nécessaire réforme face à une organisation médicale hyper-pyramidale, militaire d’un autre temps ?
Jusqu’ici personne, le manque de médecins, les liens d’intérêts croisés, les différences de salaire absolument indécentes entre le personnel soignant et les médecins cadres, les concurrences régionales, etc, tout ceci plaide pour une triste continuité des vieux réflexes gravés dans la pierre.
Et je vous rejoins, c’est un problème culturel, il faut réformer la culture même de l’institution, remettre le patient et le soignant (en l’occurence la soignante) de terrain au centre, plutôt que de beaux appareils (si nécessaires pourtant) et prothèses de toute nature qui font plaisir au professeur sans que les aspects économique et surtout thérapeutique ne soient suffisamment considérés.