Die klassische Zusatzversicherung scheint am Ende. Nach dem Zangenangriff von Preisüberwacher und FINMA liegt sie röchelnd am Boden, die Medien trampeln auf ihr herum und empörte Bürger*innen füllen Kommentarspalten. Den Todesstoss erhält sie aber aus den eigenen Reihen, vom Schweizerischen Versicherungsverband, der der missbräuchlichen Verrechnungspraxis ritterlich abschwört. Problem gelöst? Mitnichten!
Es war ein Niedergang mit Ansage: Die klassische Zusatzversicherung ist am Ende. So what? mögen Sie sich als gewiefte, nur-grundversicherte Person fragen, die im Ernstfall die paar hundert Fränkli für das Einerzimmer direkt dem Spital berappt und sich im Vorfeld mit der behandelnden Arztperson abspricht. Doch eigentlich lautet die Frage: Now what? Denn anders, als es man es sich vorstellen mag, bedroht diese Entwicklung die Finanzierung unseres Gesundheitssystems.
Neu ist der Sachverhalt nicht. Der Zusatzversicherung sind bereits mit der Einführung des KVG, also vor 25 Jahren, die Grundfesten abgetragen worden. Das vorher geltende Recht sah verschiedene Versicherungsmodelle vor. Entweder Sie waren «nur» allgemein versichert oder Sie hatten eine wie auch immer gestaltete Privatversicherung. Nennen wir dieses Modell das «Schubladenmodell». Jede Versicherung übernahm die vollen Kosten von Aufenthalt und Behandlung, der Betrag richtete sich nach dem Vertrag der entsprechenden Schublade. Mit Inkrafttreten des KVG wurde das Schubladenmodell durch ein modulares Modell ersetzt, dem einer Grundversicherung, der Zusätze aufgepfropft werden können. Inkrementell, versteht sich. Ein «Crèmeschnittenmodell» sozusagen.
Doch damals scherte sich niemand darum – der freie Versicherungsvertrag ist ja wenig geregelt – und die Versicherungslandschaft hievte einfach die Schublade «Privatversicherung» auf jene der neuen OKP und deklarierte das Ganze als Crèmeschnitte, bon App’.
Auch die Einführung der neuen Spitalfinanzierung 2012 änderte vorderhand nur wenig. Obwohl der tarifarische Wildwuchs weggemäht wurde, die kantonalen Spitalmauern geschliffen und sich der Unterschied zwischen Privat- und öffentlichem Spital durch Spitallisten einebnete, verblieben die Partner beim Wehklagen über steigende OKP-Prämien und beim sich gegenseitig der Untätigkeit bezichtigen, während im Hintergrund der lukrative ZUVER-Markt weiterlief, wenngleich stockender als auch schon. Aber die Zeitbombe tickte.
Als erstes beschnupperte die WEKO die Zusatzversicherungstarife der Spitäler. Ihr Fokus lag jedoch auf dem Aspekt der «Marktmacht» der (öffentlichen) Spitalgruppen und nicht auf Höhe und Leistungsinhalt von Spitalzusatzleistungen. Lakonisch schlug sie den Versicherern denn auch als «Lösung» zum preismissbräuchlichen Verhandlungskartell der Leistungserbringer die Bildung von Verhandlungsgruppen als «Gegenmacht» vor. Was die Versicherer, wie wir wissen, höflich aber bestimmt ablehnten – wer lässt sich schon gern im heiss umkämpften ZUVER-Spiel in die Karten gucken?
Sodann warf sich der Preisüberwacher in den Ring. Zwar hat er im VVG-Bereich wenig zu melden, proklamierte jedoch 2013, die Zusatzversicherungsprämien müssten nun purzeln. Schliesslich hätte die neue Spitalfinanzierung quasi über Nacht alles in die OKP verschoben, ausserkantonale Aufenthalte und solche in Privatspitälern inbegriffen. Drohend frohlockte er, Prämiensenkungen in Höhe von einer knappen Viertelmilliarde seien zu erwarten und verwies auf die FINMA als zuständige Überwachungs- und Eingreiftruppe.
Die FINMA wiederum prüfte die Zusatzversicherungstarife pflichtbewusst, beugte sich jedoch erst eine halbe Dekade später und auf Geheiss des Bundesrates über deren Inhalt. Das Verdikt war – wir wissen es – vernichtend. Klartext: Die Zusatzversicherung verkauft dir das gleiche paar Schuhe ein zweites Mal, schlecht verpackt und zu überrissenem Preis. Autsch.
Eilig nahm sich daraufhin der Schweizerische Versicherungsverband dieser «Goldenen Himbeere» an und gelobte mit dem Branchen-Framework «Mehrleistungen VVG» Wohlverhalten. Elf Grundsätze zur Definition, Bewertung und Abrechnung von Mehrleistungen sollen ab sofort den Mindeststandard für Verträge darstellen.
Sofort heisst 2022. 2022 heisst morgen. Morgen heisst «Ach, du liebe Scheisse!»
Es ist Herbst. Wie jedes Jahr um diese Zeit buhlen die Versicherer um unseren Zulauf, mit – frei nach Thunberg – «Einzigartigen Leistungen» bla-bla-bla, «Einmaligem Service» bla-bla-bla und so weiter. Die Prämiengestaltung ist längst vorüber, was verkaufen sie uns denn, die Zusatzversicherungen, ab 2022? Für im Schnitt CHF 150.— pro Monat?
Die Schublade ZUVER ist ziemlich leer, sie besteht im Wesentlichen aus Einer- und Zweierzimmer, freier Arztwahl (sofern Arzt frei) und Klimbimkomfort. Alle anderen Leistungen stecken längst in der Schublade OKP, bzw. in der Basis-Schicht der Crèmeschnitte, dem Einheitsteig. Und die Doppeltverrechnung, der jahrelang so stillschweigend wie einmütig begangene Kavalliersdelikt honorarberechtigter (Beleg-)Ärzt*innen, (Privat-)Spitäler und Krankenversicherer (im VVG-Bereich dürfen diese – anders als im KVG-Bereich – Gewinne erzielen, hallali), ist des Teufels.
Tatsache ist jedoch, dass die Leistungen der OKP von den Spitälern jahrelang über das VVG quersubentioniert wurden. Wer das nicht glaubt, muss bloss die Kosten mit den Tarifen vergleichen: Laut Spitalbenchmark belaufen sie sich die Kosten auf 10,5 bis 11 Kilofranken pro Fall, die OKP-Tarife werfen hingegen im Schnitt zwischen 9 und 10 Kilofranken ab. Zugegeben, eine sehr grobe Milchbüchleinrechnung und sicherlich nicht für jedes Spital zutreffend. Aber hier geht es um die Dimension. Fällt die Quersubventionierung weg, müssten die Baserates angehoben werden. Bei einer Erhöhung um 1’500.— würde sich dies bei rund 1 Mio Fällen auf 1,5 Milliarden Franken pro Jahr belaufen. Mehrkosten für die OKP. Ohne Corona.
Wer glaubt, das Problem läge allein bei den Spitälern (und, fairerweise, bei jenen Ärzt*innen, denen die Einnahmen implodieren), der irrt. Auch den Krankenversicherern geht es an den Kragen. Nicht nur, dass sie ihren Profit aus den Zusatzversicherungen schlagen, sie differenzieren sich auch über diese. Zusatzversicherungen sind die Raison d’être für die Versicherervielfalt schlechthin. Ohne (nennenswerte) Zusatzversicherung steht die Einheitskasse elefantös im Raum!
Hektik auf Teppichetagen. Schweissperlen auf monogrammierten Stofftaschentüchern. Now What? Wasserhahnen vergolden ist out, noch jüngeres, noch blonderes Pflegepersonal einzustellen ebenfalls (die Ukraine ist bereits leergebucht und Weissrussland hat Exportprobleme). Experten liefern flugs Lösungsvorschläge: Qualität vor Quantität, kuratierte Leistungen statt Wühltisch-Auswahl, Einbezug digitaler Leistungsformen, Ausweitung in die ambulante Kampfzone.
Ob’s etwas bringt, ist fraglich. Zusatzversicherten eine bessere medizinisch-pflegerische Qualität zu gewähren, wird als unethisch empfunden und von den Gesundheitsfachpersonen (allen voran dem Pflegepersonal, das zur Zeit politischen Auftrieb hat), abgelehnt. Digitale Gadgets sind nette Add-On, aber sicher keine 150 Franken pro Monat wert, ebensowenig ambulante Zusatzleistungen. Und «kuratierte», also auf die Bedürfnisse der versicherten Person zugeschnittene Leistungen müssten erst einmal ausdefiniert werden. Geht es in Richtung integrierte Versorgung, so ist dies grundsätzlich gut. Dann allerdings wird der Grad zu «Managed Care» bedrohlich schmal.
What now? Die OKP darf nicht noch teurer werden, dass ist klar. Leistungserbringer und Krankenversicherer müssen Lösungen finden, damit Vielfalt und Wahlmöglichkeiten in der Krankenversicherung bestehen bleiben. Jedoch darf der ohnehin schon zum Bersten pralle Gesundheitsapparat dabei nicht noch weiter aufgebläht werden. Vielmehr müssten «schlaue Pakete» geschnürt werden, in denen all jene Leistungserbringer integriert sind, die die effektiven Bedürfnisse der versicherten Person gemeinsam und zusammenhängend anpacken und ihr so die «Patientenjourney» nachhaltig erleichtern (mit oder ohne Club-Med-Bändeli? Lieber ohne).
Dann könnte es sogar günstiger werden. Dank Zusatzversicherung.
Momol! Da hast Du aber sehr deutlich gesagt, was Sache ist. Die ZUVER bleibt unter Umständen dennoch; alle ausser den Versicherten profitieren und die wollen sich unter Umständen weiterhin durch sogenannte Mehrleistungen vom Fussvolk abheben. Kommt ganz darauf an, welche schönen Verpackungen sich die Beteiligten in Zukunft ausdenken?
Annamaria Müller bringt es auf die zwei zentralen Punkte: erstens sind die Zusatzversicherungen zu hoch und unter Druck, aber zweitens verbilligen sie die OKP-Prämien, die sich ein Drittel der Bevölkerung schon so nicht mehr leisten können.
Als Präsidentin eines Spitalrates ist es mutig, das Kind beim Namen zu nennen, und ins Blaue hinaus Änderungen zu fordern.
Viele Bürgerinnen und Bürger sind bereit für einen Spitalaufenthalt mehr zu zahlen und sich damit von allen anderen abzuheben. Der Kreativität der Spitäler sind keine Grenzen gesetzt, um Mehrleistungen anzubieten.
Nichtsdestotrotz wird das Gesundheitswesen als Selbstbedienungsladen für Leistungserbringer und Produktehersteller in Zukunft weniger lukrativ. Auch darauf weisst Annamaria Müller hin.
Spannender Beitrag mit viel Wahrem. Und dennoch fehlt etwas: Die Differenzierung nach den Preisen für Spitalleistungen und den ärztlichen Honoraren, wo die Doppelvergütung in aller Regel augenscheinlich ist und wo es auch nicht um Quersubventionierung des ordentlichen Spitalbetriebs geht. Nur wenige Spitäler trauen sich, das heisse Eisen anzufassen und die teilweise exorbitanten Arzthonorare für Zusatzversicherte auf ein vernünftiges Mass zu reduzieren.