Sélectionner une page

Nach der Vernunft. Oder: Kann Paul uns helfen? (en allemand)

1. février 2021 | 0 commentaires

Wer aufgrund der Corona-Pandemie zwangsentschleunigt zum News- oder Infojunkie wurde wie ich, kann sich des Eindrucks nicht entwehren, dass die Welt ungesteuert auf etwas zurast. Nur, auf was? Her mit dem Orakel!

Coronabedingt entschleunigt, nutze ich die Zeit, mich anderen Themengebieten zuzuwenden. Sozialwissenschaften haben es mir angetan. Konkret die Frage: «Wie ist die Welt, in der wir leben und wohin bewegt sie sich?»

Nach sechsmonatiger, Dauerberieselung gelange ich zu folgender – zugegebenermassen sehr subjektiver und vorläufiger – Einsicht: Die Geister, die wir einst freudig riefen, machen uns das Leben schwer. Nicht nur das, sie bedrohen uns. Genauer: sie bedrohen die Grundfesten unserer aufgeklärten, postmodernen Welt. Soziale Medien – Facebook, Twitter und Co. – als harmlose «bleib in Kontakt» Werkzeuge für Jugendliche und jung Gebliebene konzipiert, mutierten innert weniger Jahre zu hochpotenten Meinungsbildungswaffen, die fähig sind, Wissenschaft und Demokratie abzuschiessen. Elektronische Plattformen, ursprünglich für den unbürokratischen, niederschwelligen Austausch zwischen Nutzern aller Art gedacht – wie Reddit, Robinhood et.al.  – sind auf einmal in der Lage, Marktssysteme wie die Börse in die Knie auszuhebeln.

Unschuldige Technologien, erst kürzlich in eine erstaunte Welt gesetzt, lassen durch die Fortentwicklung ihrer Anwendung Institutionen, die wir für moderne Gesellschaften unabdingbar erachten, in ihren Grundfesten erzittern. Der faire Handel, der methodengestützte Erkenntnisgewinn und die politische Teilhabe drohen in einer Mischung aus brandrodender Stimmungsmacherei und exaltiertem Jux an sich selber zugrunde zu gehen. Derweil dreht sich das Karussel von Entwicklung, Anwendung, Umnutzung, Aktualisierung immer schneller und immer unberechenbarer, während das Stimmengewirr auf den Plattformen, auch im Lautlos-Modus, zum ohrenbetäubenden Gereisch anschwillt.

Wir stehen da, und staunen. Gleichzeitig Zaungast, Opfer und Täter, sehen wir zu, wie unsere vermeintlich diskursorientierte Zivilgesellschaft in ihre ursprüngliche Anfangsverrohung zurückzuverfallen scheint. In Mikro- und Minigruppen zersplittert, jede mit ihrer eigenen Denke und Diktion, unfähig zum Dialog mit anderen und über den ganzen Erdball verschmiert, mit dem kleinen (aber feinen) Unterschied, dass die geografische Position des Einzelnen keine Rolle mehr spielt, da der Globus durch das ihn umspannende virtuelle Netz quasi wiederverdorft wurde.

Die Vernunft scheint weggeblasen, die konsensuale Mitte erodiert, die Realität entkernt, verdrängt von Shitsturm und Harmdrang. Angst wird zu unserem wollüstigen Begleiter. Und jeder Versuch, der alten Ordnung wieder Herr zu werden, durch cancelling und deplatforming, durch Ruf nach Zucht und Ordnung in der virtuellen Kakophonie, verpufft wirkungslos wie der Schuss aus einer antiken Pistole in einem remote geführten Cyberkrieg.

Was tun? Nostalgiker beschwören den einstigen Aufbruch aus dem Dunkel des Absolutismus in die Aufklärung – die helläugige, barbusige Gründermutter der unserer Zeit vorausgehenden Moderne. Vernunft, Gleichwertigkeit, Individualität fungierten damals als rettende Leuchttürme in den Wogen eines starren, dogmatischen, und entmündigenden Weltgefüges. Nun, «starr» ist unsere postmoderne Welt nicht, eher «hyperdynamisiert», aber «dogmatisch» und «entmündigend» würde wohl jede und jeder mitnickend bestätigen. Also back to the future? Oder forward to  the past?

Wohl kaum. Wir sind mündig. Also, eigentlich. Und gleichberechtigt. Nun, fast. Und aufgeklärt, gebildet, eigenverantwortlich und können, dürfen, müssen uns eigenständig versorgen, mit Brain-, Soul- und Fastfood. Keine Kirche, die uns sagt, was, kein Kaiser, der uns sagt, wie, kein Korporal, der uns sagt, warum. Und seit der Digitalen Revolution gibt es auch kein wann und wo mehr, bloss noch ein wieviel. Alles ist hier, alles einen Klick entfernt, rund um die Uhr, und jetzt erst recht, wo im Zuge der Pandemie ehemals getrennte Lebenswelten zu einer «Ich-und-mein-Laptop»-Singularität kollabiert sind. Wir driften durch paralysierende Parallelwelten und erstarren erschaudernd staunend. Wahrheiten zerfallen, werden zu beliebig formbarer Masse, zu saisonaler Modeware. Totgeglaubte Irrwitztheorien erfahren Kurssteigerungen ebenso wie totgewettete Geschäftsmodelle. Heilsversprechen und Todesdrohungen, Site an Site, ein Daumenwischen dazwischen. Zurück zur Vernunft?

Mit Vernunft hat das schon lange nichts mehr zu tun. Vernunft ist uncool. Und Wahrheit «out of style», wie MC 900 Ft. Jesus rappt. Und Konsensorientierung in einer auf stetige Ausdifferenzierung bedachte, um Kaufkraft, Stimmen und Likes buhlende Wettbewerbswelt schlicht nicht anschlussfähig. Vernunft und ihre Wertekolleginnen waren die Trittleitern aus dem spätmittelalterlichen Weltordnungssumpf. Wir sind einen Sumpf weiter. In einem, wo nicht mehr Könige, Generäle oder Kardinale regieren, sondern der reine Infowahnsinn (frei nach Attwenger).

Unser Gesellschaftsmodell folgt hingegen immer noch dem Imperativ des rationalen Individuums, das sich im Modus des aufgeklärten Dialogs in einem brüderlichen Kollektiv bewegt. Es ist sprichwörtlich vorsintflutlich und ungeeignet, um mit der, oder besser gesagt: den sich dynamisch morphenden Realitäten umzugehen. Als wolle man mit Fotoapparat, Massband und Stoppuhr versuchen, die Formung der Wolken zu verwalten (obwohl es diese Versuche durchaus gibt: vgl. International Cloud Atlas der World Meteorological Organization.

Wir haben Technologien geschaffen, die Ungleichzeitiges vergleichzeitigen und Weitentferntes kollidieren lassen. Die «meine reale Welt» ent-zeitlichen und ent-räumlichen und einer permanenten Transformation und Transfusion unterwerfen. Die unsere angestammten gesellschaftlichen Verhaltensweisen über den Haufen werfen und unsere herkömmlichen Reaktionsmuster ungültig stempeln. Womit nicht gesagt ist, das wir sie nicht immer noch verfolgen. Nur bewirken sie nichts mehr.

 Die «Verbiegung des Weltgefüges» macht auch vor der Politik nicht halt. Im dunklen Äther, im Darknet, beginnen sich die die äussersten Ränder des ursprünglich linearen Links-Rechts-Spektrums, das Extrem-Linke und das Ultra-Rechte, miteinander zu verweben. Raunig auf geheimen Plattformen in nahezu kongruenter Weise Verschwörungstheorien und Feindbildpolemiken absondernd, bilden sie sozusagen eine «neue Mitte», hintenrum, die durch marktschreierische Infotainmentformate angefixte Bingeuser von Junknews und Politporn magnetisch anziehen, welche dort, in der neuen Mitte, luftleer und wutbürgernd hängenbleiben. So wird die Welt endlich rund. Wenn auch nicht in der Weise, wie sich das Georg Danzer in seinem Song «Frieden» vorgestellt hätte.

Wir haben die Vernunft erfolgreich überwunden. Das Zeitalter der Aufklärung ist vorbei. Unser vernunftorientiertes Instrumentarium versagt, und jeder Dritte sehnt sich gemäss Politexperten nach Autokraten – weil ihm oder ihr der Grips für’s Selberdenken fehlt.

Und jetzt? Welches sind die «neuen Leuchttürme», die zeitgemässen Trittleitern, die uns den Weg aus dem verschwurbelten Wirrsinn weisen? Was kommt nach dem, das auf die Vernunft folgt? Was wäre die «neue Vernunft»?

Wir können rätseln. Oder googeln. Nach Propheten und Wahrsagern suchen. Im Internet wird man allerdings kaum fündig, da jedes billige Plastikkügelchen zu einer «Perle der Wahrheit» aufgepimpt werden kann. Und ausserdem weiss man eh erst morgen, wer die Propheten von heute sind. Wir könnten Ausschau halten, nach Propheten von gestern, nach Weisen (oder Irren, je nach Standpunkt), die aufgrund glücklicher Fügung, hellseherischer Fähigkeit oder sonstigen metaphysischen Eigenschaften in der Lage waren, die Zukunft treffgenau vorherzusagen. Nostradamus? Baba Wanga? Das Orakel von Delphi? Fehlanzeige.

Es gibt modernere Methoden der Weissage, realitätsnähere. Beispielsweise börsenkursvorhersehende Affen, nach deren Reaktionsmuster mittlerweile sogar Computer programmiert werden. Dummerweise ist auf dartpfeilwerfende Superaffen wenig Verlass, wenn sie auf eine Pinnwand voller hochenergetisch teambuildend gebrainstormter Moderatorenzettelchen zielen, auf denen sich in schrägbunter Schrift zukunftsrettende Tugenden und Werte tummeln. Selbst wenn der Affe einen Lottosechser vorhersehen kann, lässt sich daraus nicht zwangsläufig auf den -siebner oder -achter schliessen. Der Affe kann vielleicht etwas besser «zufallen» als wir, aber sicher nicht besser voraussagen.

Bleibt nur noch Paul, der Krake. Jenes Wunderwesen, das mit 85%-iger Treffsicherheit die Resultate der Fussball-WM von 2010 voraussagte, indem er zu dem mit der jeweiligen Landesflagge geschmückten Futterbehälter schwamm. Genauso könnte Paul zu einer vorbereiteten Auswahl von Zukunftswert-Futterschalen schwimmen, aus denen er schliesslich die richtigen naschend herauswählt. Die Sache hat nur einen Haken: Paul ist am 26. Oktober 2010 verstorben.

Aufseufzend wende ich mich deshalb wieder dem Gesundheitswesen zu und schmökere nur noch sporadisch in meiner Hartmut Rosa & Co. Sammlung. Aber ein paar Ideen für die Zukunft der Gesundheitsversorgung hätte ich schon – auch ohne Krakenorakel.

0 commentaires

Soumettre un commentaire

Votre adresse e-mail ne sera pas publiée. Les champs obligatoires sont indiqués avec *